Verlassene Orte hautnah erleben und Geschichte von ihrer Staubschicht befreien – selbst die ausgeprägten Geschichtsmuffel unter uns sagen dazu nicht nein. Auf Pfaden wandeln, auf denen früher einmal Leben herrschte, an das heute fast nichts mehr erinnert: Das ist irgendwie faszinierend und, je nach Ort, auch beklemmend. Denn eine fremde Welt lässt uns niemals kalt. Vor allem, wenn es sie einmal tatsächlich gab.
Geschichtspark Zellengefängnis Moabit
In Berlin gibt es viele verlassene Orte. Eine große Stadt befindet sich immer im Wandel, doch vor allem war Berlin Schauplatz zahlreicher geschichtlicher Ereignisse und Umwälzungen. Die haben ihre Spuren hinterlassen und verbergen sich auch an Orten, wo wir sie heute, ganz ohne Vorwissen, niemals vermuten würden. Und das gilt auch für ehemalige Gefängnisse. Das ehemals hochmoderne Zellengefängnis Moabit zum Beispiel stand einst direkt gegenüber vom heutigen Hauptbahnhof.
Grün hinter Mauern
Auf dem Gebiet des ehemaligen Zellengefängnisses Moabit befindet sich seit 2006 ein stiller Park, der trotz seiner Lage von den meisten Berlinern und Touristen schlicht übersehen wird. Und eigentlich ist das nur verständlich, denn selbst Google Maps verzeichnet hier zwar Wege und den Namen, aber kein Grün. So wirkt das Areal wie eine Wohnsiedlung – und irgendwie war es das ja auch einmal. Denn in dem ehemaligen Gefängnis war Platz für 520 Gefangene, die allesamt, das war im 19. Jahrhundert State of the Art, in Einzelzellen untergebracht wurden (unter ihnen auch „Berühmtheiten” wie der „Hauptmann von Köpenick”). Die hohen Gefängnismauern gibt es heute noch. Und auch sonst erinnert viel an die Haftanstalt preußischer Prägung, die nicht nur im Inneren, sondern auch beim Hofgang jeden Kontakt der Gefangenen zueinander unterband.
Als man 1842 mit dem Bau des Gefängnisses begann, betrachtete die Wissenschaft Kriminalität als eine Art ansteckende Krankheit. Die Inhaftierten wurden also strikt voneinander getrennt untergebracht. Da sie beim Hofgang aber trotzdem den Kontakt zueinander suchten, wurden bald auch draußen Ein-Mann-Pferche gebaut. Erst 1910 wurden sie wieder entfernt. Das Gefängnis selbst schloss 1955.
Verlassene Orte erleben
Der Park nimmt die Elemente der Haftanstalt wieder auf. Drei der vier ehemaligen Zellenflügel werden durch leicht ansteigende Rasenflächen verdeutlicht. Beim vierten zeigen Hecken die Größe der früheren Einzelzellen an. Betonpfeiler stehen dort, wo sich früher einmal das Verwaltungsgebäude befand. Selbst eine Zelle steht im Park und kann betreten werden. Und wenn ihr an einem Wacholderbaum entlang kommt, so stellt euch vor, dass dort vor vielen Jahrzehnten mal ein Häftling in seinem Hofpferch stand – denn das sollen sie symbolisieren.
Der Park ist wunderschön, vielfältig und weitläufig. Wenn man mithilfe der Infotafel jedoch erfährt, woran die einzelnen Elemente erinnern, bekommt man ein echtes Gefühl dafür, wie eng und wirklich beklemmend die Haft für jeden einzelnen Gefangenen gewesen sein muss.
SA-Gefängnis Papestraße
Dass verlassene Orte nicht zwangsläufig einmal offiziell belebt gewesen sein müssen, zeigt das SA-Gefängnis in der Papestraße in Schöneberg. 1933 diente es als eines der ersten Konzentrationslager Berlins. Und damals wie heute wusste kaum jemand von seiner Existenz, denn es liegt in einem Keller eines ehemaligen Kasernenkomplexes für preußische Eisenbahnregimenter, einem freundlichen Backsteinbau.
Folter im Gewerbegebiet
Das Gebäude mit der Hausnummer 54a, in dessen Keller von März bis Dezember 1933 über 500 meist politische Gefangene von den Männern der SA widerrechtlich festgehalten und gefoltert wurden, liegt trotz der nahen Straße ruhig inmitten eines kleinen Gewerbe- und Wohngebietes. Eine Autowerkstatt hat hier genauso eine Bleibe gefunden wie zahlreiche Agenturen und Privatleute. Auch in den oberen Stockwerken des Hauses 54a befinden sich Büros. Wäre das Schild nicht, würde nichts auf die Vergangenheit dieses Ortes hinweisen.
Lange Zeit wusste deshalb auch die „Geschichtswerkstatt Papestraße” nicht, in welches Haus die oft auf offener Straße verhafteten Personen verschleppt worden waren. Aus Berichten ging hervor, dass es in der General-Pape-Straße gewesen sein musste. Doch wo genau? Zuerst vermutete man das frühe SA-Gefängnis in einem Nachbarhaus. Doch dann meldete sich ein ehemaliger Straßenhändler zu Wort: Die SA-Männer, denen er damals Würstchen verkauft habe, seien immer in den Keller der Hausnummer 54a gegangen. Man schaute nach und fand die Spuren, die man so lange vergeblich gesucht hatte.
Spuren an den Wänden
Diese Spuren bestehen hauptsächlich aus den alten Nummern an den Kellertüren, die sich in vielen Berichten ehemaliger Häftlinge wiederfinden, sowie mehreren Bleistiftkritzeleien: Das etwas übergroße Profil eines Menschen betitelt mit einem jüdischen Namen, Hakenkreuze und Buchstabenfolgen wie F. J. K. III. B., kurz für SA-Feldjägerkorps Abteilung III. B. Im Oktober 1933 wurde die SA-Feldpolizei in SA-Feldjägerkorps (FJK) umbenannt – ein klares Indiz.
Die kühlen und leicht muffigen Kellerräume sind heute mit zahlreichen Infotafeln versehen. Berichte ehemaliger Häftlinge, die sich nach ihrer Freilassung an Behörden im In- und Ausland gewendet haben, um trotz Schweigevereinbarung auf das ihnen zugefügte Unrecht aufmerksam zu machen, hängen neben Einweisungsberichten einzelner Häftlinge ins Krankenhaus: Völlig offen wird hier von den Misshandlungen berichtet, die zur Einweisung führten. Angst vor einer Strafverfolgung musste die SA nicht haben.
Kostenlose Führung
Die „Geschichtswerkstatt Papestraße” bietet jeden Sonntag um 14:00 eine kostenlose Führung an. Sie dauert ca. eine Stunde. Einzelschicksale werden genauso besprochen wie der historische Kontext und die mühselige Suche der Trägerstiftung nach Dokumenten. Mittlerweile weiß man von ca. 500 Inhaftierten, doch die tatsächliche Zahl wird zwischen 2000 und 3000 vermutet. Die Häftlinge lagen auf dem kalten Steinboden, wurden geschlagen, gedemütigt und mitunter so lange malträtiert, bis sie an ihren Verletzungen und ihrem generellen Gesundheitszustand starben. Man weiß mittlerweile von 30 Todesfällen.
Die Aufarbeitung gleicht einem Puzzle in Grau und Schwarz und sie ist noch lange nicht abgeschlossen. Erst vor Kurzem meldeten sich wieder Verwandte eines ehemaligen Häftlings. Sein Fall wurde den Akten hinzugefügt. Ein weiteres, fast vergessenes Einzelschicksal.
Kurzinfo
- Sommer: bis 21:00
- Winter: bis 18:00
- Mehr Infos auf Berlinseite
- Di., Mi., Do. und So. 14:00 – 18:00
- Kostenlose Führung So. um 14:00 (ohne Voranmeldung)
- Mo. – Fr. für angemeldete Gruppen von 10:00 – 14:00
- Mehr Infos auf der Webseite
Verena Metzler ist begeisterte Wahlberlinerin und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Neuberlinern und Touristen das Berlin zu zeigen, das sich abseits der ausgetretenen Touristenpfade verbirgt. Hauptberuflich arbeitet sie als freie Lektorin und Texterin.
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